Quelle: Süddeutsche Zeitung

Nr.281, Freitag, den 03. Dezember 2004 , Seite 17

Der große Musiker Kevin Coyne ist gestorben

Die Belgier haben ihn besonders geliebt. „Marlene“ ist dort vor dreißig Jahren ein Hit gewesen. Und wenn heute sein Name auf einem Plakat steht in Lüttich oder Brüssel, dann kommen immer noch ein paar hundert, manchmal ein paar tausend Menschen. Die darf man nicht enttäuschen, auch wenn man schwer krank ist, längere Wegstrecken eigentlich nur mehr im Rollstuhl zurücklegen kann und alle Nase lang Sauerstoff braucht. Ein Konzert geht immer. Voller Saal. Voller Einsatz.

Heute wäre Wien dran gewesen, also hat Kevin Coyne die „unwichtige Erkältung“ mit ein paar Tabletten abtun wollen, doch es ging nicht mehr: Sein kleiner, gedrungener Körper, der die Stimme eines Rock’n’Roll-Gottes beheimaten musste und die Leber eines langjährigen Trinkers und den Durchsetzungswillen eines englischen Linksverteidigers und den Intellekt eines Dichters, Malers, Musikers, dieser so geschundene Körper konnte am Donnerstagmorgen nicht mehr. Kevin Coyne ist gestorben.

Geboren wurde er vor sechzig Jahren in der mittelenglischen Stadt Derby; Bill Haley und Elvis Presley wiesen ihm den Weg in die gefährliche Freiheit einer amerikanisierten Musikwelt, den Weg in die Bohème des schwingenden London, der willigen Mädchen, der billigen Drogen, der lauten Musik.

Doch Kevin Coyne verspürte immer ein tiefes Misstrauen gegen die Revolution der Bürgerkinder, gegen die doppelten Standards der Privatschulabsolventen mit ihren Zottelhaaren und Sportwagen.

Er musste seinen Lebensunterhalt in psychiatrischen Anstalten und als Sozialarbeiter verdienen: Hier hatte sein tiefes Fühlen, sein Mitleiden seine Wurzeln, das Wissen um die Schäbigkeit, die Niedertracht, das Elend, die Menschsein auch bedeuten. Bei John Peels Dandelion-Label machte er zwei frühe Platten, bei Richard Bransons Virgin-Label war er neben Mike Oldfield der erste Vertragskünstler. Entgegen aller branchenüblichen Gepflogenheiten hatte Kevin Coyne sogar Erfolg mit seiner kompromisslosen Musik und

seinen tieftraurigen Geschichten: Im Internet konstatiert die Musik-Referenz-Seite www.allmusic.com, wenige Musiker hätten über einen vergleichbar langen Zeitraum so herausragende Platten gemacht.

Doch das immer wildere Leben forderte Tribut, die Widersprüche zerrten an Kevin Coyne, zerfetzten seine Fähigkeit, in dieser Welt zurechtzukommen. Depressionen, Alkoholismus, zerbrochene Beziehungen: Er torkelte durch die achtziger und frühen neunziger Jahre wie der Fleisch gewordene „No Future“-Slogan der britischen Punks, die den kleinen Kerl mit dem sarkastischen Lächeln gern als einen ihrer größten Altvorderen akzeptierten.

In Nürnberg fand Kevin Coyne schließlich Liebe, Ruhe, Freunde – und dank Kabelfernsehen konnte er jedes beliebige Fußballspiel aus seiner englischen Heimat anschauen und fassungslosen Zufallsgästen dabei schildern, wie schön es doch war, sich einst im Stadion von Derby oder Wimbledon einen Becher heißes Wasser zu holen und einen Brühwürfel darin aufzulösen. Nürnberg bedeutete in den letzten zehn Jahren auch ein neues, ein zweites Leben als künstlerisches Multitalent zwischen Musik und Malerei, die er einst am Derby College of Art schon studiert hatte.

Nürnberg hat einen geschätzten Bürger verloren, die Welt einen großen Musiker, seine Freunde einen Menschen, den nicht nur die Belgier geliebt haben.

KARL BRUCKMAIER