Photos by Alexandra Thomas   

Alben

Nur selten legt der Blues das Internet lahm. Es sei denn, er wird von Michael Lee gespielt. Bis heute haben mehr als sechs Millionen YouTube-Nutzer seine umwerfende Version des Klassikers „The Thrill Is Gone“ – einen herausragenden Moment von der letzten Staffel der Fernsehshow The Voice – auf dem beliebten Videoportal angeschaut. Deshalb gilt Lee als die Blueshoffnung, die das Genre bei Mainstream-Fans wieder populär machen kann. Mit dem Erscheinen seines namengebenden Debütalbums auf Ruf ist seine Zeit als das nächste große Ding nun endlich gekommen. „Diese Platte war eine Reise”, reflektiert er. „Eine Reise, die eine Menge Spaß gemacht hat.“
  Natürlich spielte er seine soulgetränkte Coverversion von B.B. King für das Album ein – und der Thrill ist definitiv nicht weg. Aber wie der Albumtitel vermuten lässt, ist diese neue Platte vielmehr ein Spiegelbild von Michael selbst. Die zehn eigenen Titel gewähren einen Einblick in das Herz und in die Gedankenwelt eines Künstlers, der schon Vieles erlebt hat. Er stammt aus einer Gegend in Texas, in dem man fast zwangsläufig den Blues begegnet. „Da ich aus der Ecke Dallas/Fort Worth komme, wundert es nicht, dass ich stark von Freddie King und Delbert McClinton beeinflusst bin. Aber ich gebe meine eigene Note dazu. Ich spiele eine Art Retro-Texas-R&B mit einer Prise Rock’n’Roll dazu.“

Wie geschickt Michael die Tradition mit seinem eigenen, modernen Feuer verbindet, konnte keiner absehen. Sein blitzschnelles Gitarrenspiel und die reife Soulstimme ermöglichten ihm den Sprung von den zahlreichen Club-Shows in der texanischen Heimat zu seinen Auftritten vor Millionen von Fernsehzuschauern bei The Voice. Im Jahr 2019 war er bereits mit der legendären B.B. King Blues Band als Gastsänger unterwegs. Die Vision für ein klassisches Studioalbum schwebt ihm schon länger im Kopf. „Noch vor den Proben mit der Band hatte ich bereits ein klares Bild davon, wie das Album klingen sollte“, erinnert er. „Das, was wir mithilfe der beiden Produzenten Nick Choate und Nick Jay geschafft haben, hat alle Erwartungen übertroffen.“

Studiotrickserei kommt für den erfahrenen Bluesmusiker nicht in Frage. Lee singt stets direkt von der Seele. Deshalb wurden die Songs live aufgenommen, um die nackte Emotion und spontane Magie zwischen Michael und seiner erstklassigen Studioband einzufangen. Die dreckigen Beats, Fuzzbox-Gitarren und schlagkräftigen Horns der Auftaktnummer „Heart Of Stone“ geben den Ton an. Danach ändert sich die Stimmung schlagartig mit Lees herzzerreißenden Gesang als er bettelt „Don’t Leave Me“. „Weeds“ kombiniert fieberhafte Bläser mit einem nachdenklichen Songtext. „Als meine Frau und ich unser Haus bezogen haben“, erklärt er, „habe ich eines Tages in den Garten geschaut, der damals von Unkraut zugewuchert war, und mir vorgestellt, wie in Zukunft unsere Kinder dort spielen würden. Ich griff zur Gitarre und hatte den Titel in zehn Minuten fertig. Dieser Song war einfach prädestiniert.“

Ein typischer Fall für Lee, der überall seiner Inspiration findet. „Praying For Rain“ überträgt die Tradition des Hochwasser-Blues in die heutige Zeit und besticht durch das Zusammenspiel des ansteckenden Riffs, der dröhnenden Beats und des stimmungsvollen Bläsersatzes („I haven’t seen water in forty damn days“). Der beschwingte Sound von „Love Her“ täuscht über den bissigen Text hinweg. („Es ist eine klassische Story über eine hinterhältige Frau“, sagt Michael.) „This Is“ flattert elegant aus den Boxen während „Can’t Kick You“ die süchtig machenden Vorzüge einer Frau zelebriert („I can kick the nicotine, I can kick the alcohol … but I can’t kick you“). „Bei einigen Titeln sollte man am liebsten die Fenster runter kurbeln und das Autoradio voll aufdrehen“, betont Michael. „Bei anderen ist eher Kerzenlicht und ein Glas Wein mit einer geliebten Person angesagt.“

            Im weiteren Verlauf des Albums schaltet Michael gekonnt zwischen verschiedenen Stimmungen. „Fool Of Oz“ hat eine karge Gitarrenphrase und unverblümten Text. Lee singt den von Bläsern gestärkten „Here I Am“ mit einer besonderen Schärfe („Don’t leave me stranded in the pouring rain“). „Go Your Own Way“ überzeugt durch virtuoses Gitarrenspiel und eine düstere Geschichte über Sümpfe und Gangster.

            In einem Zeitalter von Musik als Massenware ist Michael Lee der waschechte Bluesman, auf den wir gewartet haben. Jetzt legt er ein Album vor, auf dem er sein ganzes Können zeigt. „Ich freue mich auf die Zukunft“, sagt er hoffnungsvoll, „und bin neugierig auf das, was noch kommt.“